Komm mir nicht zu nah – wie Distanzzonen unseren Alltag steuernLesedauer 3 Min.
Vor einigen Jahren lernte ich auf einem mehrtägigen Kommunikationstraining einen sehr freundlichen Teilnehmer kennen. Wir unterhielten uns oft und waren uns auf Anhieb sympathisch. Nur eines irritierte mich: Jeden Morgen hatte ich kurz ein ungutes Gefühl, wenn wir uns mit Handschlag begrüßten. Für einen Moment wirkte dieser sehr freundliche Mensch bedrohlich auf mich. Aber ich hatte keine Ahnung, was genau vor sich ging. Eines Tages nahm mich in einer Mittagspause eine andere Teilnehmerin etwas beschämt beiseite und schilderte mir praktisch genau dieselbe Erfahrung. Das faszinierte mich. Am nächsten Morgen beobachtete ich, wie sich die beiden begrüßten – und mir wurde schlagartig klar, was los war: Der Teilnehmer kam seinem Gegenüber bei der Begrüßung für mein Gefühl viel zu nah. Sein Gesicht war vielleicht noch 20 cm von seinem Gegenüber entfernt und obwohl er freundlich lächelte, konnte ich die Angst der Teilnehmerin buchstäblich mitfühlen. Er hatte die Distanzzone verletzt. Solche Distanzzonen sind unbewusste Regeln, die unseren Alltag auf vielfältige Weise beeinflussen und strukturieren. Der Begriff stammt übrigens von dem Anthropologen Edward T. Hall. Das Forschungsfeld wird auch Proxemik genannt
Distanzzonen sind anerzogen und kulturell bedingt
Je nach Kultur sind bestimmte Entfernungen in verschiedenen Kontexten, also zum Beispiel dem Verhältnis, in dem Personen zueinanderstehen, vorgegeben. Natürlich hat niemand von uns auf der Schule Distanzzonen-Unterricht gehabt. Diese Regeln werden über die Sozialisation von der Kindheit an gelernt und unterbewusst gespeichert. Es ist relativ selten, dass jemand diese Regeln verletzt.
Dies lässt sich beispielsweise in sog. Crowding-Situationen, also zum Beispiel einem überfüllten Bus oder Fahrstuhl gut beobachten. Steigt eine weiter Person zu, so zeigt sie häufig eine Körpersprache, die das Eindringen in die Intimzone des anderen entschuldigen soll, zum Beispiel Lächeln, Senken des Blicks und andere Demuts- und Friedensgesten. Die andere Person gibt dann durch nonverbale Kommunikation ihr Einverständnis, indem sie beispielsweise zurücklächelt oder eine Bewegung macht, die zusätzlichen Raum schaffen soll (beispielsweise Zurücklehnen des Oberkörpers, Trippelschritte zurück), auch wenn das objektiv vielleicht gar nicht mehr möglich ist.
Eine Verletzung der Distanzzonen ist häufig auch ein Hinweis für eine außergewöhnliche Situation, beispielsweise einen Arztbesuch oder einen Polizeieinsatz. Hier erlauben bestimmte Rollen das Eindringen in Distanzzonen des Anderen, was normalerweise nicht “erlaubt” ist.
Solche Verletzungen können auch Stress auslösen. Das ist möglicherweise ein wichtiger Grund, warum Mitarbeiter die Arbeit im Großraumbüro häufig als belastend empfinden.
Die wichtigsten Distanzzonen: Komm mir nicht zu nah
In der westlichen Kultur lassen sich grob vier Distanzzonen unterscheiden:
- Intime Distanz von 0 bis 60 cm: Sie ist reserviert für im wahrsten Sinn des Wortes nahestehende Personen wie Partner, Familie usw.
- Persönliche Distanz von 60 – 120 cm: Das ist die typische Small-Talk-Entfernung, in der man Gespräche beispielsweise mit guten Bekannten führt
- Soziale Distanz von 120 – 300 cm: Auf dieser Distanz interagiert man mit Menschen, die man weniger gut kennt
- Öffentliche Distanz ab 300 cm: In dieser Entfernung können wir als Individuum sozusagen in der Masse untertauchen
Distanzzonen lassen sich in der Kommunikation auch gezielt nutzen. Im Wesentlichen gibt es drei Möglichkeiten:
Distanzzonen gezielt einsetzen: Rapport testen und vertiefen
Im Gespräch mit einem Klienten ist die Entfernung, die wir haben, ein guter Indikator dafür, wie gut der Rapport schon ist. Auch lässt sich zum Beispiel durch Vorbeugen oder eine kurze Berührung testen, ob der Klient mit dieser Nähe einverstanden ist. Dabei sollte man allerdings sehr vorsichtig vorgehen, da dieses Verhalten den Rapport – siehe das Beispiel am Anfang – empfindlich stören kann. Bei dem Vater der Provokativen Therapie, Frank Farelly, konnte ich in Seminaren beobachten, wie schnell er in Verbindung mit Humor und seiner unbeschreiblichen Art in der Lage war, (Körper-)Kontakt zu seinen Klienten aufzubauen. Auch für NLP-Anwender, die taktiles Ankern nutzen wollen, ist es nötig, dass ihnen ihr Klient diese Form der Berührung erlaubt.
Distanzzonen gezielt einsetzen: Abstand gewinnen
Manchmal kommen einem Menschen buchstäblich zu nah. Dann kann der Aufbau räumlicher Distanz auch hilfreich sein, um emotional ein Stück aus einer schwierigen Situation zurückzutreten.
Distanzzonen gezielt einsetzen: Einschüchtern und Irritieren
In seltenen Fällen kann es nötig sein, das Gegenüber zu irritieren oder einzuschüchtern. Dann ist das Eindringen in die Distanzzone des Anderen ein möglicher (verdeckter) Weg, das aktiv zu erreichen. In diesem Fall sollte man aber zum einen die Konsequenzen für die Beziehung zu der anderen Person bedenken. Zum anderen setzt man sich in wirklich eskalierenden Situationen auf diese Weise eventuell einem unnötigen Risiko aus.
Ein konkretes Beispiel aus meiner Praxis: Bei einem meiner Marketing-Trainings bekamen sich zwei Führungskräfte, die ein Stück weit auseinander saßen, kräftig in die Haare. Die Lautstärke nahm zu und die Gruppe wurde langsam nervös. Ich ging von meinem Präsentationsplatz direkt auf die beiden zu. Je näher ich kam, desto leiser wurden die beiden. Schließlich stellte ich mich zwischen sie. Das Eindringen in ihre Distanzzone und der Größenunterschied – ich stehend, die beiden sitzend – waren wirksame Unterbrecher. Ich nutzte den kurzen Moment, um die beiden zu bitten, das Gespräch in der nächsten Pause fortzusetzen und konnte das Seminar weiterführen.
Ist dir das Thema schon im Alltag oder im Umgang mit Klienten begegnet? Ich freue mich auf deine Kommentare!